Die neue Normalität anerkennen – Ein Interview mit Extensis CEO Toby Martin

Tara Storozynsky
Februar 3, 2021

Fast ein Jahr, nachdem wir uns in praktisch allen Facetten unseres Lebens neu orientieren mussten, kommen die Unternehmen allmählich mit der neuen Realität zurecht. Wir können die Phase der Reaktivität hinter uns lassen, Optimierungen vornehmen und von den Vorteilen, remote zu arbeiten, profitieren. Ich habe Extensis CEO Toby Martin gefragt, was Kreative und Führungskräfte seiner Ansicht nach für ihren Erfolg tun können und was das nächste Jahr für uns bereithält.

Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für ein Gespräch mit mir genommen haben. Das Jahr 2020 ist nun beendet. Welche Veränderungen konnten Sie in Ihren Gesprächen mit Partnern und Kunden zum Jahreswechsel beobachten?

Letztes Jahr haben wir alle erkannt, dass sich Dinge und Menschen oft nur schwer zentral managen lassen – sowohl auf persönlicher als auch auf beruflicher Ebene. Diese Erkenntnis ist auf lange Sicht ein Gewinn.

Immer mehr Teams sind aufgerufen, Prozessverbesserungen zu finden, die sie unterstützen. Niemand hätte vor dem Lockdown vorausahnen können, welche Herausforderungen vor uns liegen – oder Chancen, wenn Sie so wie ich denken. Mit anderen Worten: Jetzt, wo wir wissen, was in kreativen Prozessen falsch läuft, ist es die Aufgabe jedes Einzelnen, aus seiner Position und Abteilung heraus Lösungen zu entwickeln. Dies sollte dazu beitragen, dass der sich ständig wiederholende Prozess der Verbesserung beschleunigt wird.

Wir befinden uns im Moment an einem Punkt, an dem die Müdigkeit durch den Optimismus, dass das Ende in greifbare Nähe rückt, ein Stück weit verdrängt wird. Die Menschen beginnen, wieder Zukunftspläne zu schmieden. Wenn Sie nach vorne schauen – was mitunter schwierig ist, wenn sich Ihr Unternehmen nur gerade so über Wasser halten kann – legen Sie den Grundstein dafür, dass Sie später Ihren Wunschzustand erreichen.

Immer mehr Menschen arbeiten von zu Hause aus, die Schulen sind vielerorts geschlossen. Da ist es für viele noch schwerer als früher, die richtige Work-Life-Balance zu finden. Wir haben viele kreative Kunden, die es gewohnt sind, komplett in ihre Projekte abzutauchen und lange zu arbeiten. Was würden Sie ihnen mit Blick auf das dieses Jahr raten?

Kreative neigen dazu, voll und ganz in ihrer Arbeit aufzugehen. Wenn Ihre Couch Ihr Büro ist, fällt es schwer, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit zu finden. Schnell arbeitet man immer länger und länger. Anfangs fühlt man sich vielleicht noch „produktiver“, doch nachhaltig ist das nicht.

Ich würde diesen Mitarbeitern denselben Rat geben wie ihren Vorgesetzten und Kunden: Nehmen Sie Ihre Prozesse und Tools einmal genau unter die Lupe.

Oft sprechen wir über Menschen, Systeme, Prozesse, Unterstützung und Partner als Erfolgsfaktoren. Wenn wir einen neuen, bislang nicht berücksichtigten Aspekt erkennen und in Angriff nehmen, kommen wir der nötigen Balance ein ganzes Stück näher. Investieren Sie also ein wenig Zeit und schauen Sie sich genau an, wie Sie Ihre Arbeit erledigen. Achten Sie noch mehr als früher darauf, wo Sie Zeit verschwenden.

Hier bei Extensis legen wir großen Wert auf eine gute Work-Life-Balance. Wir investieren deshalb kontinuierlich in eine neue Reihe von Tools. Eine unserer wichtigsten Prioritäten ist die Unterstützung unserer Teams und die Eliminierung überflüssiger Aufgaben. Damit haben wir einen enormen Return on Investment erzielt. Noch wichtiger aber ist, dass unsere Teams heute mehr Zeit für Innovationen haben.

Wir alle bezahlen unsere Teams dafür, dass sie Probleme auf kreative Weise lösen. Anstatt nur in das Management Ihrer Mitarbeiter zu investieren, sollten Sie versuchen, ihnen mehr Zeit zu verschaffen. Freiheit hat eine belebende Wirkung und ermöglicht wertvolle kreative Ergebnisse. Wenn Sie Ihren Teams mehr Freiheiten in ihren Prozessen geben, können sie über diese nachdenken und weiter verbessern. (Es passiert schnell, dass man sich zu sehr auf die Tools und zu wenig auf die Prozesse konzentriert. Wenn ich eine solche Situation erkenne, versuche ich sie immer zu ändern. Hat man gute Tools, aber schlechte Prozesse, wird einfach schneller Geld verschwendet.)

Vieles hat sich sehr verändert. Doch anstatt Entschleunigung sehen wir immer häufiger, dass die Unternehmen etwas ausprobieren Sie probieren neue Vertriebsmodelle aus und nutzen die sozialen Medien, um ihre Kernkompetenzen deutlicher zu kommunizieren. Welche Auswirkungen hat das Ihrer Meinung nach auf kreative Fachkräfte?

Ich beginne hier mal mit einem Beispiel: Nach 24 Jahren in denselben Büroräumen wird Extensis in diesem Frühjahr endlich umziehen. Dieser Schritt ist das Ergebnis der sich verändernden Arbeitswelt, die dauerhafte und hybride Remote-Arbeit mit sich bringt. Kreative erleben einen ähnlichen Wandel, weil die alten Modelle in dieser neuen Welt einfach nicht mehr funktionieren. Wenn auch vieles noch ungewiss erscheint, sollten Sie einmal überlegen, wie viele dieser Veränderungen so willkommen sind! Wir müssen in Bewegung bleiben und die neue Situation nutzen, um den Wert des neuen Modells, der Arbeit von zu Hause, zu maximieren.

Wir haben uns lange genug darüber geärgert, dass die alten Methoden immer noch Standard sind. Ich sage nur: hallo Printformat oder mobile first Design! Diese Weiterentwicklung der Arbeitsweisen ist eine Chance, immer neue Verbesserungsmöglichkeiten zu finden. Wenn wir unser Büro räumen, verschwinden der Papierkram, die Aktenschränke, die stationären Rackmount-Server und andere Überbleibsel der Vergangenheit. Wir haben die Gelegenheit beim Schopf gepackt und unsere Prozesse optimiert – also lasst uns alle gleichzeitig auch die Arbeitsbereiche im übertragenen Sinne bereinigen. Schließlich gibt es kein Zurück. Und würden Sie das denn überhaupt wollen?

Hier bei Extensis haben wir uns im März 2020 ziemlich schnell an das sichere Remote-Arbeiten angepasst. Warum waren wir Ihrer Meinung nach so erfolgreich?

Uns war es wichtig, die gewachsene Unternehmenskultur zu wahren. Ich würde im Moment nicht in einem Start-up sein wollen oder versuchen, sprunghaft zu wachsen und viele neue Mitarbeiter einzustellen. Ohne ein starkes Fundament und gute Beziehungen innerhalb des Teams kann die Umstellung auf Remote-Arbeit eine große Herausforderung sein.

Das soll nicht heißen, dass wir keine Änderungen vorgenommen haben, um das Arbeiten von zu Hause optimal zu unterstützen, wie viele von Ihnen. Slack, Zoom, Salesforce und viele unserer anderen Tools sind für dezentrale Teams gemacht. Die Tools spielen also durchaus eine Rolle, doch auch sie sind nur so gut wie das Team, das sie nutzt. Erst der Mensch, dann das Tool ...

Ein weiterer Teil unseres Erfolgs ist die neue Art der Kommunikation und wie sich diese entwickeln musste. Bei den vielen Kommunikationsmethoden da draußen passiert es schnell, dass man sie falsch nutzt (synchron vs. asynchron) oder Gespräche auf elektronischen Weg führt, obwohl man lieber zum Telefonhörer greifen sollte. Wir senden häufig Nachrichten an das ganze Unternehmen und berufen öfter virtuelle als persönliche Team-Meetings ein, da die zufälligen Begegnungen und andere Möglichkeiten der Informationsübermittlung wegfallen. Die Tools liefern die technischen Voraussetzungen – doch erst die Bereitschaft der Teams, ehrlich und bescheiden zu sein und sich auf Teamarbeit zu verlassen, macht das Ganze erst möglich.

Viele sprechen über die „Zukunft der Arbeit“ und die „neue Normalität“. Welche Trends werden sich Ihrer Meinung nach im nächsten Jahr – und darüber hinaus – abzeichnen?

Es wurde schon viel darüber diskutiert, aber das dezentrale Arbeiten ist gekommen, um zu bleiben. Diejenigen, die vor der „Rückkehr zur Normalität“ nur auf der Stelle treten, werden große Schwierigkeiten bekommen. Selbst die extrovertiertesten unter uns müssen zugeben, dass es nicht schlecht ist, Zeit beim Arbeitsweg zu sparen, weniger Kleidung in die Reinigung bringen zu müssen (wer arbeitet nicht gerne ab und zu in Jogginghosen?) und in der Mittagspause sportlich aktiv sein zu können. Diese Unterschiede machen die Arbeit von zu Hause aus attraktiv, flexibel – und zu einem dauerhaften Trend.

Ich persönlich war vorher kein Befürworter des Remote-Arbeitens. Die Teams hier haben mich durch ihre gute Anpassungsfähigkeit eines Besseren belehrt. Wir sind alle mit an Bord!

Ich glaube auch, dass es großflächige demografische Verschiebungen in der Arbeitswelt geben wird – und das ist eine willkommene Veränderung, die in vielen Bereichen schon seit Jahren überfällig ist. Wenn Sie die Vielfalt Ihrer Belegschaft oder die geografische Verteilung Ihrer Mitarbeiter betrachten (denken Sie an die Bay Area) und sich nicht gerade in einem Hotspot befinden, kann dieses Problem nahezu unüberwindbar erscheinen. Doch diese Barriere besteht nur in unserem Kopf. Tatsächlich können Sie heute von überall aus auf einen Pool vielfältiger, qualifizierter Mitarbeiter zugreifen. Der Zugang zu Arbeitsplätzen hängt nicht mehr von der räumlichen Entfernung ab.

Stattdessen steht er immer mehr im Zusammenhang mit der Leistung, was viele Chancen hinsichtlich Vielfalt, Leistungssteigerung und der Demokratisierung von Arbeitsplätzen eröffnet, die früher undenkbar gewesen wären. Ich habe den Begriff „intellektueller Flüchtling“ gehört, bevorzuge jedoch „intellektueller Tourist“.

Den einzigen Aspekt, den ich bei der Einstellung von Remote-Mitarbeitern bedenken würde, ist die Aufrechterhaltung der Unternehmenskultur. Auch wenn Sie einen wirklich kompetenten Remote-Mitarbeiter finden, müssen Sie Ihre Unternehmenskultur berücksichtigen, da sich sonst größere Herausforderungen ergeben können. Die Einstellung von Mitarbeitern aus der Ferne ist kein Allheilmittel, sondern eine zusätzliche Option, die kluge Unternehmen strategisch nutzen werden.

Der Einsatz von Technologie scheint sprunghaft angestiegen zu sein. Eine globale Umfrage von McKinsey hat ergeben, dass Unternehmen die Digitalisierung von Kunden-, Lieferketten- und internen Abläufen um bis zu vier Jahre beschleunigt haben. Die Zeiten für Unternehmen, die digitale Lösungen anbieten, sind ausgesprochen spannend, doch es liegt auch noch eine Menge Arbeit vor ihnen. Wie wollen Sie und Ihr Kernteam den wachsenden Anforderungen gerecht werden und das nächste Jahr erfolgreich meistern?

Eine gute Frage, die sich jeder vorausschauenden Führungskraft stellt. Am Anfang mussten wir alle reagieren, doch nachdem wir jetzt so weit in den wirtschaftlichen Abschwung hineingeraten sind, kommt eine solche Denkweise zu spät.

Bei Extensis verdoppeln wir unsere Anstrengungen, um neue Modelle zur Optimierung des Kundenerfolgs zu entwickeln. Wir schulen unsere Teams in neuen Möglichkeiten für die Zusammenarbeit mit unseren Kunden, integrieren mehr Intelligenz in unsere Lösungen und investieren viel Geld in Tools wie Salesforce und Pendo. Wir behalten unser Investitionstempo bei. Außerdem betrachten wir die jetzige Zeit als Chance zum Experimentieren und Lernen. Das können wir, weil unser Geschäft stabil genug ist – ein echter Luxus!

Wer sich für Geschichte interessiert, sollte einmal nachlesen, was Andy Grove während eines Abschwungs mit Intel gemacht hat: Er hat in neue Werke (Produktionsanlagen) investiert, weil er wusste, dass die Krise vorübergehen würde. Blicken Sie weiter zurück und betrachten Sie Roosevelt und die Jahre nach der Depression oder sogar 2009 und die Finanzkrise. Sie können nur vorankommen, wenn Sie Ihre Stärken nutzen, sich voll und ganz auf die Erholung konzentrieren und den besten Kurs für die Zukunft planen.

Ich bin optimistisch, dass Extensis gestärkt aus der aktuellen Situation hervorgehen wird und arbeite jeden Tag mit dieser Überzeugung im Hinterkopf. Ich freue mich über jeden einzelnen unserer Kunden, der sich uns anschließt!

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