Warum Schriften wichtig sind: Sarah Hyndman lädt uns ein, unsere Liebe zur Schrift neu zu entdecken – Teil I

Geschrieben von Extensis | Februar 14, 2022

Wie beeinflusst Typografie unsere Stimmung? Wie wirkt sie sich auf unseren ersten Eindruck von einer neuen Marke aus oder wie weckt sie in uns ein Gefühl von Vertrautheit, wenn wir es mit einem Unternehmen zu tun haben, das wir seit vielen Jahren unterstützen? Die Wahl der richtigen Schrift gehört bei jedem Designprojekt zu den wichtigsten Entscheidungen. Trotzdem ist den meisten gar nicht bewusst, wie stark Schriften unsere Wahrnehmung verändern und unser Kaufverhalten beeinflussen können.

Das will Sarah Hyndman ändern.

Bei ihren Events, die von gigantischen multisensorischen, interaktiven Ausstellungen bis hin zu kleineren öffentlichen Workshops reichen, werden anhand von Typographie Kultur- und Sinnesfragen erforscht. In ihrem Buch Why Fonts Matter (Warum Schriften wichtig sind) geht Sarah außerdem der Frage auf den Grund, wie sich Schriften auf unsere Emotionen und die Art und Weise, wie wir die Welt um uns erleben, auswirken.

Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie sie zur Typografie gekommen ist, wie sich ihre Workshops in Zukunft gestalten werden und wie sie ihre unermüdliche Neugier immer wieder wachkitzelt.

Was hat Sie am Anfang Ihrer Tätigkeit im Designbereich dazu bewogen, sich auf die Typografie zu konzentrieren?

Sarah Hyndman: Ich bin irgendwie ins Design hineingerutscht und habe mich dann hochgearbeitet. Ich bin sehr autodidaktisch veranlagt und habe als Werbetechnikerin und Siebdruckerin angefangen. Mit der Typografie habe ich mich nie bewusst beschäftigt. Für mich als Designerin gehörte sie zu den Dingen, mit denen man einfach so ständig zu tun hat. Dass ich mich darauf spezialisiert habe, lag wahrscheinlich vor allem daran, dass ich keine offizielle Ausbildung hatte. Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, dass jeder, der anders als ich eine Designschule besucht hat, dieses gewisse geheime Wissen über die Typografie besitzt. Wenn man sich jedoch näher mit der Thematik befasst, stellt man natürlich fest, dass Typographie kein Hexenwerk ist. Man muss einfach viel Zeit und Arbeit investieren und vor allem neugierig sein. Das hat sich bei mir ganz natürlich entwickelt.

Glauben Sie, dass Sie als Autodidaktin eine andere Sichtweise haben? Und wie hat sich dies auf die Entwicklung Ihrer Karriere in der Typografie ausgewirkt?

Sarah: Ja, auf jeden Fall, und dies hat zwei Folgen. Erstens weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich musste mir alles im Laufe der Zeit selbst erarbeiten. Zweitens gehe ich häufig den längeren Weg, obwohl es bereits eine Antwort gibt.

Doch der Prozess bereitet mir viel Freude. Die Fähigkeit, neugierig zu sein und sich auf eine Entdeckungsreise zu begeben, ist meiner Meinung nach unglaublich wertvoll. Dies gilt insbesondere jetzt, wo sich unsere Welt immer schneller verändert. Dass ich in der Lage bin, mich zu verändern und den Dingen auf den Grund zu gehen, hat mir sehr geholfen. Zugegeben: Ich habe auf meinem Weg einige Fehler gemacht und bin schon ein paar Mal auf die Nase gefallen. Doch das gehört einfach dazu! Man steht wieder auf und überlegt, was man falsch gemacht hat und was man daraus lernen kann.

Auf das Thema Neugier kommen wir später nochmal zurück. In Ihrem Buch Why Fonts Matter findet man Hunderte Beispiele von Schriften, die eine Vielzahl von Bildern und Illustrationen begleiten. Es ist nur eines von vielen großen Projekten, an denen Sie im Laufe Ihrer Karriere gearbeitet haben. Wie gehen Sie vor, um Ihre Ideen zum Leben zu erwecken?

Sarah: Die meisten Ideen in diesem Buch erscheinen zwar recht spontan, sind es in Wirklichkeit aber nicht. Einige habe ich seit 2013, als ich mit Type Tasting begonnen habe, ständig weiterentwickelt. Ich werde mit der Konzipierung von Workshops und Großevents beauftragt, die alle auf von mir im Laufe der Zeit entwickelten Vorlagen basieren. Am Anfang jedes Projekts spreche ich immer mit sehr, sehr vielen Menschen. Mit je mehr Leuten ich sprechen kann, desto besser bekomme ich ein Gefühl dafür, woran sie interessiert sind. Ich finde heraus, was sie wissen wollen, und kann daraus ableiten, womit ich mich selbst näher beschäftigen muss. Die vielen Gespräche waren sehr aufschlussreich für mich, denn sie haben mir gezeigt, dass ich keine Annahmen treffen darf und dass ich eigentlich nur wenig über eine Sache weiß.

Mit je mehr Menschen ich redete, desto klarer wurde mir, dass jeder Einzelne von uns absolut einzigartig ist. So geht es meistens los. Irgendwann kommt dann ein Punkt, an dem ein bestimmtes Thema entweder sehr interessant für mich ist oder es von so vielen Leuten angesprochen wurde, dass es dann in die nächste Phase geht.

Bei Why Fonts Matter, begann es damit, dass ich mich mit der Psychologie der Typografie auseinandergesetzt habe. Ich versuchte, wissenschaftliche Informationen zu finden, doch es gab nicht besonders viele, also habe ich selbst angefangen zu experimentieren. Ich habe mich in alle möglichen Untersuchungen und Studien eingearbeitet, aber wenn ich ein Buch dazu gesucht habe, gab es keins. Plötzlich machte es Sinn, mein gesamtes gesammeltes Wissen in einem Buch zusammenzufassen und es dann mit anderen zu teilen.

Bei meinen Events ist der Ablauf logischer. Eines meiner Lieblingsevents ist das „Wine and Type Tasting“, zu Deutsch eine Wein- und Schriftenverkostung. Bei diesem soll vor allem aufgezeigt werden, wie sehr man Vorurteile hinsichtlich seiner Erfahrungen hat und wie stark man sich von Dingen wie Etiketten und Typografie leiten lässt. Meine Events halten immer einige Überraschungen bereit. Wenn Sie zum Beispiel denken: „Nein, Schriften haben keinerlei Einfluss auf mich", werden Sie feststellen, dass es doch so ist. Solche Events sind natürlich als Präsenz-Veranstaltung viel besser, weil ich die Reaktionen der Teilnehmer sehen und sofort Fragen stellen kann. Die Reaktionen kann ich anschließend in das nächste Projekt einfließen lassen, an dem ich arbeite.

Anscheinend sind Sie jemand, der überall Inspiration findet. Können Sie ein wenig mehr darüber erzählen?

Sarah: Typografie ist allgegenwärtig. Man vergisst leicht, dass es etwas mit der Art und Weise zu tun hat, wie das Gehirn Buchstaben liest, dass es diese visuelle Ebene zwischen uns und den Begriffen gibt, die wir lesen. Es ist wie mit der Luft, die wir atmen: Überall, wo man hinschaut, ist Schrift. Wenn Sie mir ein Thema geben, kann ich es in ein Subjekt verwandeln, denn so gut wie alles wird von Schrift begleitet. Wenn wir die Straße entlanggehen, kann ich aus den Schildern, an denen wir vorbeikommen, ein Event konzipieren. Die Schilder, die wir sehen, bilden eine Art typografische DNA für die entsprechende Gegend. Vor nicht allzu langer Zeit hat mich jemand herausgefordert, etwas mit Schokolade zu machen, weil wir gerade welche gegessen haben. Also habe ich angefangen, mir Schokoladenpapiere genauer anzuschauen. Wo es Schrift gibt, gibt es auch Inspiration.

Noch mehr interessiere ich mich aber für Schriften, die Geschichten erzählen. Neutrale Schriften sind für mich nur begrenzt interessant. Die Lesbarkeit ist mir dabei weniger wichtig. Es gibt viele Designer, die sich darauf spezialisiert haben, doch ich betrachte mich als jemand, der andere dazu bringt, sich in die Typografie zu verlieben. Das funktioniert am besten mit spannenden, bewegenden Schriften. Wenn man sich dann erst einmal in die Typografie verliebt hat, wenn man sich wirklich für sie begeistert, dann wird der Blick schärfer und man beginnt, alle Nuancen und Feinheiten zu sehen.

Ein sehr interessanter Ansatz. Ich bin relativ neu in der Welt der Typografie, habe aber zehn Jahre lang in der Lebensmittelindustrie gearbeitet. Ich erinnere mich, wie ich mir verschiedene Etiketten und Zutatenlisten angeschaut und mich gefragt habe: „Warum sieht das so aus?“ Und das ist nur ein kleiner Teil unserer großen Welt. Die Vorstellung, dass die Typografie alles durchdringt, was wir tun, ist faszinierend.

Sarah: Vielen Dank. Ich würde auch Ihre Aussage in Frage stellen, dass Sie neu in der Typografie sind. Auf der bewussten Ebene mag sie neu für Sie sein, doch unterbewusst haben Sie sich schon Ihr ganzes Leben lang mit ihr beschäftigt. Als Schriftkonsument sind Sie also ein absoluter Experte. Beim Gang durch den Supermarkt filtert man anhand der Schrift, was man kaufen möchte und was nicht. Sie kennen sich schon jetzt mit der Thematik aus – Sie müssen nur noch Ihre Schriftbrille aufsetzen und sich dessen bewusst werden.

„Schriftbrille“, das gefällt mir. Das ist großartig. Sie haben auch einen wunderbaren TEDx Talk auf YouTube, eingestellt, in dem Sie Beispiele für einige der Konzepte geben, über die wir gesprochen haben. Sie vergleichen Schriften mit „multisensorischen Fantasiegranaten“ und argumentieren, dass „Schriften Wörter in Geschichten verwandeln“. Können Sie mir mehr über Ihre Mission erzählen, „... die Art und Weise, wie wir über Typografie denken und sprechen, zu verändern, indem wir sie für jeden interessant machen – nicht nur für Designer“?

Sarah: Meine Mission gründet darauf, dass ich Autodidaktin bin und herausfinden wollte, wie ich etwas über Typografie lernen kann. Wenn man sich Kinderbücher anschaut, dann sieht man die Schrift förmlich auf der Seite herumschwirren. Das ist unglaublich ausdrucksstark. Wenn man Designer wird oder in der Kommunikationsbranche arbeitet, wird Schrift irgendwann plötzlich eine furchtbar ernste Angelegenheit . Man bekommt das Gefühl, dass man ein Experte sein muss, um darüber sprechen zu dürfen. In meiner Jugend war ich begeistert von der Schrift, und als ich dann beruflich damit zu tun hatte, fühlte ich mich sehr unbeholfen, als ob ich nicht genug wüsste.

Als ich Type Tasting ins Leben gerufen habe, wollte ich eine Lücke finden, in der nicht schon jemand anderes etwas lehrt oder über etwas spricht oder forscht. Da ist mir wieder der Gedanke gekommen, dass Typografie eigentlich Freude bereiten soll. Versucht man jedoch, tiefer in die Materie einzutauchen, wird sie zu einer ernsten Sache. Vor allem jetzt, da Designtools zunehmend demokratisiert werden und so viele Designer keine traditionelle Designausbildung mehr absolvieren, muss es eine bessere Möglichkeit geben, allen etwas über Schrift beizubringen. Das also war mein Ausgangspunkt, denn ich glaube nicht, dass jeder, der etwas über Typografie lernen möchte, sich gleich wissenschaftlich damit beschäftigen muss.

Type Tasting ist wie eine Weinverkostung für Typografie. Das Erlebnis ist kompakt, sozial, immersiv und multisensorisch, weil sich die Schrift auf alle Ihre Erfahrungen bezieht und nicht nur auf das, was man gerade betrachtet. Typografie steht in Beziehung zu dem, was man hört, was man riecht, was man schmeckt – zu allen Sinnen. Ich finde es spannend, Events zu konzipieren, bei denen man in die ganze Welt der Typografie eintaucht, aber auf eine Art und Weise, die sich völlig instinktiv und erfahrungsorientiert anfühlt. Wenn Sie das getan haben und sich für das entsprechende Thema interessieren, können Sie sich auf akademischer Ebene weiterbilden – falls Sie in diese Richtung gehen wollen.

 

 

Es ist so inspirierend, dass Schrift nicht der Elfenbeinturm sein muss, den nur wenige Menschen betreten und erkunden können . Man kann die Typographie wirklich jedem nahe bringen. In den Jahren seit Ihrem TEDx Talk haben Sie viel getan, um die Magie der verschiedenen Schriften zu unterstreichen, und dadurch der breiten Öffentlichkeit noch mehr Türen zum Thema geöffnet. Inwiefern spiegeln Schrifttrends den kulturellen Wandel wider? Und wie kann das Erkennen dieser Verbindungen Designern helfen, ihre Arbeit zu verbessern?

Sarah: Als ich mich mit den verschiedenen Schriftstilen und -kategorien befasst habe, musste ich mich mit größeren gesellschaftlichen Veränderungen im Laufe der Geschichte auseinandersetzen, da die Schrift den kulturellen Wandel reflektiert. Wenn Sie mir zum Beispiel eine groovige, psychedelische Schrift zeigen, weiß ich, dass sie aus den 60er und 70er Jahren stammt, und ich kann Ihnen viel darüber erzählen. Bei einer altenglischen Schrift kann ich Ihnen wiederum sagen, aus welcher Epoche sie stammt. Ich war mir also bewusst, dass jede Schrift eine Geschichte über ihre Herkunft erzählt – und diese Geschichten verändern sich im Laufe der Zeit. Ich interessiere mich sehr dafür, wie sie sich entwickeln und wie Schriften soziale Haltungen und kulturelle Veränderungen dokumentieren.

Die letzten zehn bis zwanzig Jahren haben viele sehr neutrale, geometrische, serifenlose Schriften hervorgebracht. Diese werden Schriftdesigner zukünftig als App-Schriften im „Millennial-Stil“ kennenlernen. Insbesondere gilt das für die letzten zehn Jahre, in denen Schriften wie Helvetica Light herausgekommen sind – Apple hat uns gelehrt, einen guten Geschmack zu entwickeln. Die typografische Landschaft war also lange sehr neutral und minimalistisch geprägt.

In den letzten drei bis sechs Jahren hat sich das aber vollkommen geändert. Es zeichnet sich ab, dass die Typografie in nächster Zeit richtig spannend wird. Zum Beispiel können wir in vielen Publikationen – von Medium bis zum Impressum von The Guardian sehr scharfe, dreieckige Serifen sehen. Dabei handelt es sich um Publikationen, die Ihnen mitteilen, was Sie wissen müssen, nicht unbedingt, was Sie wissen wollen.

Von links nach rechts: Medium, The Guardian

 

Auf der anderen Seite gab es diese sehr kurvigen Schriften. Schauen Sie sich Chobani an und wie das Unternehmen sein Logo auf Grundlage der Windsor-Schrift neu gestaltet hat. Diese ist sehr geschwungen und sieht aus, als wäre sie mit einem Pinsel gemalt worden. Und das ist nur ein Beispiel für die vielen geschwungenen Schriften, die in den letzten Jahren zu sehen waren. Schon vor 2020 haben diese Schriften in vielerlei Hinsicht an Komfort und Luxus erinnert. Während der Pandemie weckten sie dann außerdem nostalgische Gefühle. Wenn man die Windsor sieht, denkt man vielleicht, dass sie aus den 1970er Jahren stammt, tatsächlich handelt es sich aber um eine Jugendstil-Schrift aus den frühen 1900ern. Sie spielt also mit einer nostalgischen Stimmung in einer Zeit, in der jeder versucht, sich während der Lockdowns zu erden und Geborgenheit zu finden. Für mich war die Windsor so etwas wie die Bananenbrot-Schrift von 2020.

Von links nach rechts: altes Chobani-Logo, neues Chobani-Logo

 

Schaut man sich die Rebrands vieler Unternehmen an, dann wirken diese nach wie vor recht neutral, weisen aber immer häufiger kleine Akzente in den Schriften auf, zum Beispiel Ink Traps, also diese gewellten Formen, die in den Buchstaben versteckt sind. Die Schriften dieser Rebrands sehen allmählich etwas welliger und geschwungener aus, und sie muten menschlicher an.

Wir bewegen uns also weg von „Hey, ich bin cool!“ hin zu „Hey, ich spreche wie ein Mensch, denn ich spreche zu dir als Mensch“. Dabei lässt sich beobachten, dass wir uns als Gesellschaft insgesamt so fühlen. Es ist also nur logisch, dass Schriften und die typografische Landschaft ganz im Zeichen dieses gesellschaftlichen Wandels stehen. Auf meiner Patreon-Seite gehe ich noch genauer auf die Verbindung zwischen Typografie und unseren Sinnen ein.

Left to right: altes Mailchimp-Logo, neues Mailchimp-Logo

 

Ihre Ausführungen bringen mich dazu, über einige Rebrandings, die ich in letzter Zeit gesehen habe, genauer nachzudenken. Wenn Unternehmen entscheiden: „Wir brauchen einen neuen Look, wir brauchen eine neue Stimme“, wie treffen sie dann diese Entscheidung? Dies scheint ein sehr komplexer Vorgang zu sein und meiner Meinung nach wollen sie so den Weg für viele verschiedene Veränderungen ebnen.

Sarah: Was die Komplexität angeht, stimme ich Ihnen vollkommen zu. Der Grat zwischen den Erwartungen der Branche und dem, was den Kunden wichtig ist, ist schmal. Und inwiefern decken sich diese beiden Faktoren mit den Werten des Unternehmens? Wie kann man all dem Rechnung tragen und seine Marke so umgestalten, dass sie frisch, authentisch und ehrlich wirkt? Außerdem müssen Sie Ihre Marke aktuell halten, damit es nicht so aussieht, als wären Sie in der Vergangenheit stehen geblieben.

 

 

Da es in dem Bereich, in dem sich Branding und Typografie berühren, noch viel zu entdecken gibt, haben wir beschlossen, unser Interview mit Sarah Hyndman in zwei Teile aufzuteilen. Im zweiten Teil befassen wir uns näher mit Sarahs Events und wie sie Menschen durch die Kraft der Typografie zusammenbringt.